In meinen Coachings erlebe ich immer wieder Kundinnen und Kunden, die unter einer seelischen Verletzung leiden. Diese Verletzung kann Jahre zurückliegen, oft wurde sie sogar in der Kindheit oder Jugendzeit erlebt. Aber der Schmerz ging so tief, dass das Erlebte noch heute im Leben eines Erwachsenen spürbar ist.
Man schleppt den Schmerz, den Groll und die Wut wie eine schwere Last mit sich herum.
Das längst Vergangene hat einen mächtigen Einfluss auf die Qualität der Beziehung der Beteiligten.
Ich möchte in diesem Blog anhand eines Beispiels eine wirkungsvolle Möglichkeit aufzeigen, wie man mit alten seelischen Wunden umgehen kann. Denn:
wäre es nicht eine Erleichterung, diese alte Last endlich ablegen zu können und frei davon zu sein?
Sobald man sich nicht mehr mit der alten Verletzung beschäftigen muss, wird Kapazität frei für anderes. Sie könnten Ihren Fokus auf Dinge richten, die Ihnen wirklich wichtig sind im Leben und die Ihnen Freude machen.
Ich möchte Ihnen heute Frau Sandra Schmied vorstellen. Das ist nicht ihr richtiger Name. Um ihre Privatsphäre zu schützen, schenke ich dieser Klientin heute einen anderen Namen und auch die genauen Begebenheiten sind an dieser Stelle verändert. Frau Schmied ist 46 Jahre alt, Mutter von 4 Kindern und führt eigentlich ein gutes Leben. Wäre da nicht die angespannte Beziehung zu ihrer Mutter, die Frau Schmied als distanziert, kühl und mühsam beschreibt. Im Verlaufe des Coachings schildert mir Frau Schmied einen Vorfall, den sie als 14-Jährige mit ihrer Mutter erlebt und bis heute weder vergessen noch verzeihen konnte: sie hatte sich als Teenager in ihren Lehrer verliebt. In einem innigen, nahen Moment mit ihrer Mutter vertraute sie dieser ihre Schwärmerei an. Am nächsten Geburtstagsfest der Tochter verkündete die Mutter vor all den eingeladenen Freundinnen, wie normal es doch sei, sich in einen älteren Mann zu verlieben, so wie es ihre Tochter grad tue und dass man das keinesfalls ernst nehmen sollte. Das sei kindliche Schwärmerei und gehe vorbei. Meine Klientin schilderte, sie wäre damals am liebsten in den Erdboden versunken. Sie habe sich furchtbar geschämt. Und sie habe eine grosse Wut auf ihre Mutter bekommen: wie konnte sie es nur wagen, ein ihr anvertrautes Geheimnis vor versammelter Gesellschaft preiszugeben! Sie fühlte sich hintergangen. Das Vertrauen war missbraucht worden und das Mädchen war zutiefst verletzt. Die Folge war, dass sie sich von ihrer Mutter innerlich zurückzog. Sie hat ihr nie mehr etwas anvertraut. Das Misstrauen gegenüber ihrer Mutter hat sich Frau Schmied bis heute ebenso bewahrt wie die feste Überzeugung, dass ihre Mutter sie eh nicht ernst nimmt, egal, was sie tut.
Diese Geschichte zeigt auf eindrückliche Weise auf, wie sich eine Verletzung aus Kinder- resp. Jugendjahren bis heute auswirken kann. Frau Schmied hat dieses Erlebnis in ihren Erinnerungen gespeichert und bewahrt. Und es hat die Beziehung zu ihrer Mutter vergiftet. Darunter litt Frau Schmied bis zu dem Tag, an dem sie sich entschied, etwas dagegen zu unternehmen.
Es gibt viele Menschen, die etwas Ähnliches erlebt haben. Einen Verrat, eine Verletzung der erwarteten Loyalität, Hohn oder Spott.
Ich möchte Sie heute dazu ermutigen, das Erlebte aus einer neuen Perspektive anzuschauen. Machen Sie sich erst einmal klar, in welchem Alter Sie waren, als die Verletzung passiert ist. Frau Schmied war damals ein Teenager und hat instinktiv so reagiert, wie man es als Teenager tut: man muss sich schützen vor einer solchen Verletzung. Unser automatisiertes System gibt uns dazu 3 Möglichkeiten: Angriff, Flucht oder tot stellen. Frau Schmied hatte damals nicht mit Rebellion reagiert, sondern mit Rückzug. Um einer möglichen erneuten Verletzung vorzubeugen, stellte sie die innere Regel auf: deiner Mutter kannst du nicht trauen. Und sie sah sich in jedem Satz der Mutter, der auch nur ansatzweise eine Kritik enthielt, bestätigt, dass ihre Regel stimmt und die Mutter nicht hinter ihr steht.
Das Perfide an dieser Regel ist, dass sie funktioniert: die Mutter konnte nie wieder ein Geheimnis gegen die Tochter verwenden, denn sie erfuhr nie wieder von einem. Hingegen war eine emotionale Nähe nicht mehr möglich. Sich öffnen hätte bedeutet, den Schutzschild fallenlassen zu müssen. Frau Schmied sehnte sich aber schon ihr ganzes Leben lang nach einer warmen, liebevollen Beziehung zu ihrer Mutter. Mit diesem Schutzschild war das aber nicht möglich.
Nachdem Frau Schmied sich klar gemacht hatte, dass sie nun kein Teenager mehr ist, sondern heute als erwachsene Frau auf den Vorfall schauen kann, änderte sich ihre Wahrnehmung. Sie erkannte, dass ihre damalige Reaktion als Teenager völlig normal, verständlich und in Ordnung war. Sie war damals schon der Meinung, dass man Geheimnisse nicht preisgibt; dieser Meinung ist sie heute noch. Die Mutter hätte ihre persönliche Meinung dazu in einem vertraulichen Gespräch unter vier Augen äussern können. Anhand dieser Erkenntnis konnte Frau Schmied endlich auch die ewig nagende Frage loslassen: "vielleicht hatte ich es ja verdient, so behandelt zu werden?" Keinesfalls. Frau Schmied ist überzeugt: niemandes Vertrauen sollte so missbraucht werden. Frau Schmied erkannte, dass sich in der Zeit damals nicht nur Misstrauen gegenüber ihrer Mutter festgesetzt hatte, sondern auch gegenüber sich selbst. Sie traute sich selbst nicht so ganz. Ihr Gedanke, der seitdem ihr ständiger Begleiter war: "ich bin nicht richtig, ich ticke falsch. Mich sollte man nicht ernst nehmen. Meine Gefühle sind lächerlich".
All diese Erkenntnisse machten Frau Schmied erst mal tieftraurig. Im Rahmen des Coachings konnte Frau Schmied dann eine erwachsene Haltung zu diesem Thema aufbauen und die Beziehung zu ihrer Mutter aus einer neuen Perspektive sehen.
Die Erkenntnis: Loyalität, Wertschätzung oder gar Liebe können nicht eingefordert oder erwartet werden.
Man kann einen anderen Menschen, egal wie nah man ihm steht, nicht zwingen, auf eine bestimmte Weise zu fühlen, zu denken oder zu handeln.
Was Sie aber in der Hand haben, ist, wie Sie einem Menschen begegnen, der Sie nicht wertschätzend behandelt.
Es steht Frau Schmied völlig frei, wie sie ihrer Mutter begegnet. Heute - als erwachsene Frau. Sie kann sich entscheiden: will ich den Groll weiterhin mit mir herumtragen? Nützt er mir etwas? Wofür ist er hilfreich? Was macht er mit mir? Was passiert, wenn ich mich dafür entscheide, meiner Mutter zu vergeben für die damalige Aussage? Will ich denn vergeben oder ist das die wohlverdiente Strafe? Meine Frage an Frau Schmied an dieser Stelle war: wer bekommt denn die Auswirkungen dieser "Strafe" zu spüren? Das war eindeutig Frau Schmied selber, wie sie feststellen musste. Denn die Mutter hatte in all den Jahren nichts davon mitbekommen. Gelitten hat nur Frau Schmied. Diese Erkenntnis brachte Frau Schmied dazu, sich dem Thema ausführlich zu stellen. Nach ein paar Coachingsitzungen konnte Frau Schmied das Erlebte mit all den Konsequenzen, unter denen sie über 30 Jahre gelitten hatte, loslassen. Heute begegnet sie ihrer Mutter als erwachsene Frau.
Zum Schluss möchte ich Ihnen noch einen Satz mitgeben, der mich sehr berührt hat. Frau Schmied hat ihn mir im Verlaufe ihrer letzten Sitzung gesagt: "meine Mutter hat Fehler gemacht. Ich denke, jeder macht das. Ich habe als Mutter wohl auch Fehler gemacht. Ich wünsche mir, dass meine Kinder nicht 30 Jahre lang im Stillen wütend auf mich sind, sondern mir heute sagen, wenn sie finden, ich habe was Falsches gesagt oder getan".
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