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Vom Kind zum Erwachsenen

Aktualisiert: 28. März 2020


Kürzlich las ich einen Beitrag zum Thema Entspannung. In dem Text riet mir ein Coach: "konzentrier dich auf deine Bedürfnisse, spür dein inneres Kind und verwöhne es". Ich war irritiert. Wer oder was genau ist dieses innere Kind? Hat nur mein inneres Kind Bedürfnisse? Soll ich nur diesen Teil verwöhnen? Das "innere Kind" spielt in der Psychologie und Psychotherapie eine grosse Rolle. Daneben gibt es zahlreiche Ratgeber und Selbsthilfebücher darüber. Auch viele Coachs arbeiten mit dem "inneren Kind". An dieser Stelle möchte ich meine Gedanken zu diesem Thema anbringen. Mir ist bewusst, dass meine Haltung der momentan leider noch gängigen Handhabung des Themas widerspricht. Ich hoffe, ich schaffe es, Ihnen mit diesem Blogbeitrag darzulegen, weshalb es so wichtig ist, dass wir eine neue Haltung dazu finden und diese auch leben.

Es ist offensichtlich, dass Kinder Bedürfnisse haben und die Eltern respektive Erziehungsverantwortlichen dafür Sorge zu tragen haben, dass diese Bedürfnisse erfüllt werden, da die Kinder noch nicht in der Lage sind, selbst für sich zu sorgen. Natürlich gibt es nun verschiedene Arten von Bedürfnissen. Das Bedürfnis nach Essen oder Schlaf ist nicht gleichzusetzen mit dem Bedürfnis, am Handy Mobile Legends zu spielen. Ich habe 3 männliche Teenager im Haus - ich weiss, wovon ich rede.

Das Schweizer Recht orientiert sich am Begriff des "Kindeswohls". Wir gehen also davon aus, dass die Erwachsenen wissen, was das Beste für das Kind ist. So weit so gut. Irgendwann wird das Kind erwachsen. Als Erwachsener sollte er oder sie in der Lage sein, sich nun selbst um sich und um seine Bedürfnisse zu kümmern.

Diese Selbstfürsorge ist in meinen Augen eine zentrale Fähigkeit im Leben eines Erwachsenen.

Wenn wir Glück haben, hatten wir Eltern oder andere Erwachsene, die uns in unserer Jugendzeit Schritt für Schritt gezeigt haben, wie man sich um sich selbst kümmert. Worauf man achten soll, wie man Prioritäten setzt. Welche Impulsen man nachgeben soll und welchen nicht. Dass es wichtig ist, auf sich selbst zu hören und seine Kräfte einschätzen und einteilen kann. Wer dazu nicht in der Lage ist, setzt sich der Gefahr aus, irgendwann an Erschöpfungszuständen zu leiden. Nehmen wir nun einmal an, ich bin erwachsen, habe aber das Bild im Kopf, dass ein Erwachsener immer stark sein muss. Das würde bedeuten, dass ich nie Schwäche zeigen darf - das ist ja per se schon schlecht - und ich darf auch nicht um Hilfe bitten, weil - in meinem Kopf - ein Erwachsener dieses Manko ja gar nicht haben darf und deshalb ist es logischerweise auch nicht vorhanden. Die einzige Möglichkeit, die ich in dieser Situation hätte, um gesund zu bleiben, wäre: mich um mein inneres Kind kümmern. Denn als Kind darf ich ja Bedürfnisse haben, ich darf schwach sein und mal Pause machen und spielen. Folglich muss ich dieses innere Kind bewahren, um überhaupt ein einigermassen gesundes Leben führen zu können. Mit dieser Logik wird jedoch die Haltung zementiert, dass ich selbst als Erwachsener stets hilfsbedürftig und abhängig bin - wie ein Kind. Und genau da liegt in meinen Augen der Knackpunkt. Wäre es nicht viel sinnvoller und hilfreicher, eine andere Haltung einzunehmen?

Die zentrale Frage, die man sich beantworten sollte, ist: was bedeutet es für mich, erwachsen zu sein?

Einer meiner Söhne sagte im Kindergartenalter mal zu mir: "Mami, ich will nie erwachsen werden, denn dann darf ich nicht mehr Playmobil spielen". Bei anderen Kindern setzt sich in dem Alter vielleicht die Überzeugung fest, dass man als Erwachsener nicht laut lachen und nicht übermütig sein darf. Oder dass man nicht barfuss läuft. Manche dieser in der Kindheit gelernten Regeln übernehmen wir unhinterfragt ins Erwachsenenleben. Doch wenn diese Regeln dann nicht geprüft werden, können sie uns schaden.

Beantworten Sie für sich heute die Frage: was heisst es für mich, erwachsen zu sein, also zu 100% die Verantwortung für all mein Tun, mein Denken und mein Sein zu übernehmen. Was ist da wichtig? Welche Vorstellungen von einem Erwachsenenleben hab ich aus der Kindheit mitgenommen (damalige Vorbilder oder eigene Regeln, die ich mir als Kind gemacht habe)? Welche davon sind heute für mich noch stimmig und hilfreich? Welche erachte ich als störend? Welche erweisen sich als schlicht nicht mehr aktuell? Welche Vorstellungen möchte ich heute ablegen, weil sie aus einer vergangenen, unausgereiften Sicht heraus entstanden sind? Welche Fähigkeiten helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Wieviel Freiheit soll es geben in meinem Leben? Ist Unabhängigkeit ein wichtiger Wert für mich? Was hilft mir, ein ausbalancierter Mensch zu sein? Was brauche ich, um gut für mich selber sorgen zu können? Das können äussere Ressourcen sein, wie z.B. Geld oder charakterliche Eigenschaften wie Durchhaltewille, Disziplin, Empathie usw. Das können aber auch Gedanken sein. Oft lasse ich Klientinnen und Klienten hilfreiche Gedanken formulieren.

Ein solcher Gedanke, der immer wieder auftaucht, ist: "ich bin gut so, wie ich bin. Es ist okay".

Welcher Gedanke wäre für Sie hilfreich, damit Sie sich und Ihre Bedürfnisse als Erwachsener ernst nehmen und Ihr Handeln danach richten können?

Mein Sohn mit dem Playmobilproblem hat übrigens schon im zarten Alter von 5 Jahren lösungsorientiert gedacht und sein Dilemma auf geniale Art gelöst: "ich werde einfach Chef von Playmobil, dann kann ich den ganzen Tag spielen". Auch das eine Sicht, die er vielleicht eines Tages ablegen wird.

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